Stolperstein für Agnes Schöner verlegt
Es ist der 30. Stolperstein, der in Würselen an die Menschen, die durch das nationalsozialistische Regime verfolgt und ermordet wurden, erinnert: Der Stein von Agnes Schöner. Im November wurde er von Gunter Demnig im Beisein der Familie von Agnes Schöner sowie einigen Schüler:innen des Heilig-Geist-Gymnasiums verlegt.
In Würselen sind es nun 28 Steine, die stellvertretend für 28 Menschen, Geschichten und Leben stehen. Glänzende Mahnmale, 10 mal 10 mal 10 Zentimeter groß, stellvertretend, denn noch immer kennen wir nicht alle Geschichten. Die Geschichte um Agnes Schöner, eines der beiden Euthanasie-Opfer in Würselen, wurde von Schüler:innen im Rahmen des Projekts „Das HGG in der Zeit des Nationalsozialismus“ thematisiert.
Der Stolperstein, der an Agnes Schöner erinnern soll, wurde an der Maarstraße 13 verlegt. Eine Ausstellung zum Projekt war vorübergehend im Alten Rathaus zu besichtigen.
Der Zufall enthüllt die Geschichte von Agnes
Dass wir heute von Agnes Schöner und ihrer Geschichte wissen, verdanken wir wie so häufig dem Zufall. Denn der gebürtige Würselener Stefan Reichhart schreibt seit einigen Jahren an einem Buch über seine beiden Großväter, die unterschiedlicher nicht sein konnten: Der eine, Paul Laufen, Katholik, der heimlich Flugblätter gegen das NS-Regime druckte – der andere, Josef Reichhart, ein Nazi. Da Laufen damals in Würselen lebte, besuchte Reichhart im Rahmen von Recherchen das Kulturarchiv Würselen.
Dort wurde damals Achim Großmann hellhörig, als Reichhart von der heimlich durchgeführten, nächtlichen Obduktion des Euthanasie-Opfer erzählte, bei der u. a. sein Großvater beteiligt gewesen war. Großmann legte auch den Grundstein zum Projektkurs des Heilig-Geist-Gymnasiums, denn wie Reichhart berichtete, war bei der Autopsie auch ein Spiritaner-Pater beteiligt. „Nachdem ich über Achim Großmann mit den Geschichtslehrern des Projektkurses in Kontakt gebracht wurde“, sagt Reichhart, „bin ich in die Schule gefahren und habe den Schülerinnen und Schülern während einer Schulstunde über das berichtet, was ich herausgefunden hatte.“
Agnes war eine von uns
Die stellvertretende Bürgermeisterin der Stadt Würselen Brigitta Schüppen-Büttgen dankte den Schüler:innen und allen weiteren Helfer:innen für das Nachzeichnen von Agnes bedrückender Geschichte im Rahmen des Projektkurses und für das Engagement in der schulischen Begleitung der Stolperstein-Verlegung. „Durch Eure Arbeit sorgt ihr dafür, dass die Opfer dieser unermesslichen Brutalität nicht vergessen werden“, sagt Schüppen-Büttgen.
Nachdem der Stolperstein vom Künstler Gunter Demnig verlegt wurde, zündeten die Schüler:innen Kerzen an und legten Blumen nieder. Eine Schülerin las die Geschichte von Agnes vor und endete mit dem Satz: „Agnes war eine von uns, sie lief durch die gleichen Straßen wie wir. Mit dieser kleinen Geste möchten wir an sie erinnern und dafür sorgen, dass sie nicht vergessen wird.“
Unter Tränen berichtet Hans-Peter Schöner, wie der Tod von Agnes sich auf die Familie auswirkte. Auch er dankte den Schüler:innen für deren Engagement. „Das unser Leid nicht vergessen wird und so viele Menschen heute hier sind, um unsere Agnes zu ehren, erfüllt mich mit Dankbarkeit.“
Organisiert wurde die Stolpersteinverlegung federführend von Stefan Reichhart. „Eigentlich hat Achim Großmann mich darauf gebracht“, sagt Reichhart. „Er war damals sehr engagiert und hatte wirklich tolle Ideen.“
Die Geschichte von Agnes Schöner, aufgeschrieben von den Schüler:innen des Heilig-Geist-Gymnasiums:
Pater Joseph Schmetz und das Euthanasieopfer Agnes Schöner
Die Spiritaner in Broich hatten einen weiten Bekanntenkreis und mehrere Freunde in der Umgebung. Einer von ihnen war Andreas Schöner, ein Elektriker, der alle Elektroinstallationen im Kloster gemacht hatte und auch ein Radiogeschäft in Würselen betrieb. Seine jüngere Schwester Agnes, die nach dem Tod der Eltern bei ihm im Haushalt lebte, wurde mit der Zeit auffallend unruhig und entwickelte eine Psychose. Um besser für sie sorgen zu können, brachte man – in Absprache mit den anderen Geschwistern – die kranke Agnes im katholischen Schwestern- und Pflegeheim in Gangelt unter. Sie erholte sich merklich und wurde in dieser Einrichtung eine Hilfskrankenschwester. In den Kriegsjahren begannen die Nationalsozialisten mit den Euthanasiemorden.
1943 sollten auch psychisch Kranke des katholischen Schwestern- und Pflegeheims in Gangelt „verlegt“ werden. Agnes stand nicht auf dieser Liste, wollte die von ihr betreuten Kranken aber nicht im Stich lassen und verlangte bei diesem Transport, der nach Österreich ging, mitzufahren. Im Zuge des sogenannten NS-Euthanasieprogramms verlegten die Nationalsozialisten häufig Behinderte, um sie fern von der Verwandtschaft „heimlicher“ umbringen zu können.
Andreas Schöner erreichte die Nachricht, dass seine Schwester am 23.3.1943 auf dem Transport nach Österreich an einer „plötzlichen Herzschwäche“ gestorben sei. Ein guter Freund von Andreas Schöner, Paul Laufen, betrieb in Würselen eine kleine Druckerei. Dort hatte er u. a. zwei Jahre zuvor (1941) die Predigt des „Löwen von Münster“ illegal nachgedruckt, in denen der Bischof von Galen die Morde an „unwertem Leben“ publik gemacht hatte. So zweifelte Andreas an der offiziell mitgeteilten Todesursache und hatte den schrecklichen Verdacht, dass seine Schwester ermordet worden war. Unter schwierigsten Umständen organisierte er die Überführung des Leichnams in einen Zinksarg, den er, eidesstattlich versichert, nicht mehr öffnen dürfe. Nach der Überführung von Österreich wurde der Sarg mit der toten Agnes kurzzeitig im Sarghaus des Würselener Friedhofs aufbewahrt. Staatsanwaltschaft und Kriminalpolizei wollten nicht ermitteln und so nahm Andreas Schöner das Heft in eigene Hand, um die Ermordung seiner Schwester zu beweisen: Bei einer Vorbesprechung verwickelte Andreas Schöner den Friedhofwärter in ein Gespräch, während sein Sohn einen Schlüsselabdruck machte. Mit einem so hergestellten Nachschlüssel brachen Andreas und sein Freund Paul zusammen mit Pater Schmetz nachts in das Sarghaus ein.
Pater Joseph Schmetz war belgischer Spiritanerpater, der 1942 zur Aushilfe nach Broich kam. Er hatte wohl in seiner Ausbildung zum Missionar einen Kurs in Tropenmedizin belegt und besaß insgesamt gute medizinische Kenntnisse.
Die Männer öffneten den Zinksarg. Pater Schmetz nahm am Leichnam einen Luftröhrenschnitt vor, um die Schleimhäute zu untersuchen. Auf Grund der Verfärbung waren sich die drei sicher, dass Agnes durch eine Kohlenmonoxidvergiftung, einem Tötungsgas der Nationalsozialisten, ermordet worden war. Aus den heutigen Aufzeichnungen der Dokumentationsstelle „Gedenkbuch Hartheim“ weiß man allerdings, dass Agnes durch eine Überdosis von Betäubungsmitteln ums Leben gebracht wurde.
Jedenfalls wurde der Zinksarg wieder fachgerecht zugelötet und ein Untersuchungsprotokoll aufgesetzt. Der Bruder von Pater Schmetz war beim belgischen Widerstand tätig. Über ihn ließ Pater Schmetz sein Protokoll dem britischen Geheimdienst zukommen, damit dieser Kenntnis über die Verbrechen der Nationalsozialisten erlange.